„Prinzip“ kann alles Mögliche bedeuten, worauf Daniel-Pascal Zorn im letzten Editorial hinweist: Prinzip als Ursache oder Grund, Prinzip als Wesen oder Struktur, Prinzip als Handlungsanweisung etc. Von diesen Prinzipienbegriffen ist keiner besser oder schlechter, sie sind nur verschiedene Werkzeuge. Wie bei jedem Werkzeug müssen wir jedoch trotzdem schauen, ob das, was wir dafür halten, auch wirklich eines ist (oder nicht vielleicht eine Attrappe). Wir müssen also Prinzipien-Anwärter irgendwie in Hinsicht auf ihr jeweiliges Prinzip-Sein überprüfen. Wir brauchen, anders gesagt, ein Prinzip der Prinzipien.
Damit ist kein Über-Prinzip gemeint, das irgendwie noch prinzipieller wäre als unsere Prinzipien-Kandidaten; auch kein Gattungsbegriff des Prinzips, unter das wir verschiedene Prinzipien-Arten bringen können. Wir suchen eher ein – im wahrsten Sinne des Wortes – grund-legendes Kriterium, das uns erlaubt, plausibel etwas als Prinzip auszuzeichnen (was auch immer das dann genau heißt).
„Prinzip der Prinzipien“, das klingt überspannt. Und doch finden wir ein „Prinzip aller Prinzipien“ gerade bei einem Philosophen, der auf den ersten Blick eher nicht extravagant wirkt, nämlich Edmund Husserl. In seinen schlank betitelten Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie lesen wir in den ersten Sätzen des § 24 das Folgende.
Doch genug der verkehrten Theorien. Am Prinzip aller Prinzipien: dass jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der „Intuition“ originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen. Sehen wir doch ein, dass eine jede ihre Wahrheit selbst wieder nur aus den originären Gegebenheiten schöpfen könnte. Jede Aussage, die nichts weiter tut, als solchen Gegebenheiten durch bloße Explikation und genau sich anmessenden Bedeutungen Ausdruck zu verleihen, ist also wirklich […] ein absoluter Anfang, im echten Sinne zur Grundlegung berufen, principium.
Husserliana Band III, 52
Hier liefert uns Husserl zunächst einmal einen weiteren Begriff des Prinzips: Ein Prinzip ist für Husserl keine erste Ursache oder eine Handlungsanweisung, sondern ein Satz, in dem etwas ausgedrückt wird, das unmittelbar gegeben ist – und zwar genau so, wie es gegeben ist; kürzer: ein Prinzip ist zunächst einmal eine gute Beschreibung. Das Prinzip der Prinzipien beschreibt vor allem, worin die Qualität einer guten Beschreibung liegt, nämlich darin, dass sie aus der Sache geschöpft ist.
Dass eine Beschreibung ein Prinzip sein soll, mag seltsam klingen, und dass gute Beschreibungen sachnah sind, banal. Aber: Für seinen Prinzipienbegriff nimmt Husserl einfach zwei ursprüngliche Bedeutungen von „principium“ auf, nämlich Anfang und Grundlage (hier: für Philosophie). Mit einer Beschreibung den Anfang zu machen, hat den Vorteil, dass wir dadurch den Sachbezug zu sichern: Wir legen ein bestimmtes Thema vor und zeigen zugleich, wie wir uns darauf beziehen. Ist die Beschreibung solide, und reichhaltig genug, kann sie als Grundlage für alles weitere dienen. Nicht zu vergessen ist auch der geringere Anspruch: mit dem Versuch einer Beschreibung lehnen wir uns viel weniger weit aus dem Fenster als mit einer These.
Nun sind aber Beschreibungen nicht alle gleich gut. Stellen wir uns vor, ich charakterisiere irgendjemanden, den ich überhaupt nicht kenne, sagen wir, irgendeinen Vorfahr. Ich kann Wahres über diese Person sagen, z.B., dass sie eine Person war, ein Mensch, jemand, der Kinder hatte; ich kann auch zufällig richtig liegen, etwa, wenn ich behaupte, er habe blonde Haare gehabt und sei 1,80m groß gewesen. Das kann stimmen. Die Beschreibung ist aber jedenfalls keine, die aus „originär gebender Anschauung“ geschöpft ist, sondern sie enthält nur Notwendiges und willkürlich Geratenes. Sie ist gewissermaßen leer. Ähnliches gilt etwa, wenn wir mathematische Formeln zeichengetreu angeben, ohne aber zu verstehen, worum es dabei eigentlich geht; wir haben dann keine Einsicht, keine Anschauung von der Sache, obwohl wir den richtigen Zeichenstrang nennen können. Wiederum ähnlich verhält es sich, wenn wir philosophische Gedanken nicht aus den Originaltexten selbst kennen, sondern nur irgendwelche Paraphrasen aus der Sekundärliteratur.
Der Unterschied zwischen Beschreibung aus Anschauung und Beschreibung ohne Anschauung ist der zwischen Beschreibung aufgrund von Hören-Sagen und Beschreibung aufgrund von direktem Sichtkontakt. Beschreibungen erhalten also ihre Bindung an die Sache durch die Anschauung. Das Prinzip aller Prinzipien besagt daher unter anderem, dass ein Satz, der genau beschreibt, was gegeben ist (und auch nicht mehr), sein gutes Recht hat – auch, weil jeder Einwand dagegen nur wieder auf das zurückgehen kann, was wirklich gegeben ist, wenn er nicht leer sein will.
Aber was ist mit dem Prinzip aller Prinzipien selbst? Es ist offensichtlich kein Axiom, aus dem weitere wahre Sätze abgeleitet werden, und auch keine Methode; die Anweisung, die sich daraus in gewissem Sinne ergibt, wäre eben höchstens „schau auf die Sachen selbst und beschreibe sie umsichtig“. Es ist vielmehr selbst eine Beschreibung, nämlich vom Zusammenhang zwischen Beschreibung und Anschauung (vgl. Keiling 2013).
Husserl sagt deutlich, die Anschauung sei „eine“ Rechtsquelle der Erkenntnis, nicht die einzige. Außerdem ist Husserl Prinzipienbegriff sehr speziell. Husserl liefert uns also keine abschließende Antwort auf die Frage, welches Kriterium uns erlaubt, etwas gültig als Prinzip auszuzeichnen. Trotzdem können wir von ihm den Gedanken aufnehmen, dass eine (!) Möglichkeit, etwas als Prinzip auszuweisen, in der vorsichtigen Beschreibung des Gegebenen beruht. Wenn also etwa „das Absolute“, „Gott“ oder „das Eine“ in Aussagen vorkommen, die „durch bloße Explikation“ etwas Gegebenes zum Ausdruck bringen, d.h. bestimmte fundamentale Verhältnisse evident beschreiben, dann haben sie offenbar prinzipielle Bedeutung im doppelten Sinn: mit ihnen sind Grundstrukturen angesprochen (1), und zwar so, dass wir damit etwas anfangen können (2).
Ob solche Evidenzen tatsächlich vorliegen oder nicht, darüber lässt sich trefflich streiten, und zwar schul- und traditionsübergreifend – jedenfalls, solange wir die Sache nicht aus dem Blick verlieren.
- Husserl, Edmund: Husserliana III. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Volume I. ed. Karl Schuhmann, 1976.
- Keiling, Tobias: „Phänomenologische Freiheit in Husserls Ideen“, in: Diego D’Angelo, Sylvaine Gourdain, Tobias Keiling, Nikola Mirković (Hrsg.): Frei sein, frei handeln : Freiheit zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. Freiburg/München: Verlag Karl-Alber, 2013, S. 243-271.